Kristine Bilkau (2022), Nebenan

Es gibt sie noch, die Romane, die keinem Trend unterliegen und ohne die üblichen thematischen Versatzstücke von „trans“ über „queer“ zu „Klima“ oder „Flüchtlinge“ auskommen, sondern einfach interessante Geschichten erzählen, in denen die Hauptfiguren komplexe Charaktere sind. Kristine Bilkaus zweiter Roman ist aus diesem Holz geschnitzt, kommt eher leise daher und entwickelt so zurückhaltend wie eindringlich die beiden Protagonistinnen.

Es geht um zwei völlig unterschiedliche Frauen in einem kleinen Ort in Norddeutschland, in dem eine Familie plötzlich und spurlos verschwindet. Die Szenerie des Dorfes wird zum Teil aus der Perspektive der gestandenen Ärztin Astrid mit zwei erwachsenen Kindern erzählt, zum Teil aus der Sicht der jungen Kunsthistorikerin Julia, die erfolglos alles tut, um endlich ein Kind zu bekommen. Die Atmosphäre im Dorf wird so eindringlich beschrieben, dass man ein klares Bild vom verlassenen Ortskern mit seinen vielen blinden Scheiben vor Augen hat.

Es gelingt Bilkau meines Erachtens ausgezeichnet, die verschiedenen Handlungsstränge und Geschichten so in der Schwebe zu halten, dass man immer weiterliest, um zu erfahren, worauf das Ganze hinausläuft. Wiederholt taucht die Frage auf, wie weit es zulässig ist, in das Leben anderer einzudringen und ihnen nachzuspüren mit dem Wunsch zu helfen. Als die Ärztin Astrid versucht, dem Verschwinden der Familie im Dorf auf den Grund zu gehen, gerät ihr eigenes Leben ins Wanken.

Dieses Buch ist sehr ungewöhnlich und schöpft seine Kraft aus Zwischentönen. Umso erstaunlicher und erfreulicher erscheint es mir, dass es auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2022 gelangte, auf der viel Trendiges und Lautes zu finden war. Auch Frau Bilkau selbst trat bei der Vorstellung ihres Buches in Frankfurt viel zurückhaltender auf als einige der anderen Autoren und bewies erfreulicherweise, dass es ihr um Literatur und nicht Effekt geht. Allein deshalb lohnt es sich, diese norddeutsche Geschichte zu lesen.

(16.03.2023)