Heute wird in Großbritannien der "Erzähl-eine-Geschichte-Tag" gefeiert und ich nutze diesen kuriosen Feiertag als Chance, das schon recht alte Erstlingswerk der mittlerweile sehr bekannten Autorin Judith Hermann vorzustellen. Ein Praktikum führte Hermann während ihrer Journalistenausbildung nach New York. Ausgerechnet dort schrieb sie diese preisgekrönten Geschichten, von denen mehrere in ihrer Heimatstadt Berlin spielen.
Besonders in der Titelgeschichte gelingt es Hermann so eindringlich, die Stimmung innerhalb des Berliner Bohémien-Milieus der 90er Jahre einzufangen, dass Hellmut Karasek später vom "Sound einer Generation" sprechen sollte. Es passiert oft nicht viel, aber wie hier Antriebslosigkeit, Originalität und Witz aufeinandertreffen, ist unvergesslich. Es geht um echte Typen, die ihre Tage wartend und nach etwas suchend verbringen und sich einprägen durch ihre Passivität und Eigentümlichkeit.
Durch ihre Geschichten verhalf Hermann dem gesamten Genre Kurzgeschichte zu einer Renaissance in Deutschland und zahlreiche andere Autoren folgten ihrem Vorbild mit eigenen Geschichtensammlungen. So unterschiedlich die Figuren der einzelnen Erzählungen bei Hermann sind, so verbinden sie doch eine gewisse Unentschlossenheit sowie ein Hang dazu, Dinge so lang zu vertagen, bis es nicht mehr geht.
Gerade in einer Zeit, in der es täglich neue dramatische Ereignisse gibt, die unsere Aufmerksamkeit binden, kann dieser Erzählband uns zum genauen Lesen und Betrachten animieren und damit zu einem veränderten Leseverhalten. Auf jeweils wenigen Seiten können wir dabei in immer wieder andere Welten eintauchen und unsere Phantasie spielen lassen.
(27.10.2023)