Ich binde in mein Coachingangebot immer Leseempfehlungen ein und wende mich daher besonders an Menschen, die gerne lesen. An jedem ersten Freitag im Monat stelle ich in meinem Blog ein Buch vor. Das „Freitagsbuch“ kann ein Roman oder ein Fachbuch sein. Alle Bücher verbindet etwas: Sie drehen sich um Themen, die Menschen in Umbruchsituationen beschäftigen.
Bücher wirken inspirierend und die Leser nehmen etwas mit von den beschriebenen Verhaltensweisen, indem sie Ideen aufgreifen oder Fehler vermeiden. Da Literatur immer individuell wirkt, fühlt sich der Leser nicht von jedem Titel gleich stark angesprochen. Ich biete hier eine Auswahl meiner Lektüre an und hoffe, dass dadurch möglichst viele Leser ihre eigene Situation überdenken und in Ansätzen klären. Zudem wünsche ich den Lesern viel Vergnügen mit meiner Auswahl und immer wieder die beruhigende Erkenntnis, dass sie nicht allein dastehen mit ihren Problemen.
Ich folge meinem persönlichen Bewertungssystem:
- 6 Bücher = einfach wunderbar
- 5 Bücher = unbedingt lesenswert für eine bestimmte Lesergruppe
- 4 Bücher = interessant für eine bestimmte Lesergruppe
- 3 Bücher = nischig, nur für eine bestimmte Lesergruppe
- 2 Bücher = unterhaltsam, aber nicht mehr
- 1 Buch = lieber etwas anderes lesen
Isabel Allende, Der japanische Liebhaber/El amante japonés (2015)
Bis zum Schluss voller Wendungen und Überraschungen
In Zeiten wie diesen, in denen die meisten Menschen wenig Interessantes zu erzählen haben, stieß ich auf einen Roman der wunderbaren Isabel Allende, der „grande dame“ der lateinamerikanischen Literatur. Ihre Welterfolge Das Geisterhaus oder Eva Luna kennt fast jeder, aber dieses späte Werk, in das viel Lebens- und Schreiberfahrung eingeflossen ist, scheint mir nicht ganz so bekannt.
Benjamin Myers, Offene See/The Offing (2019)
Eine prägende Begegnung
Kürzlich meldete der Börsenverein, dass der Umsatz des stationären Buchhandels 2020 um 8,7% zurückgegangen sei. Nach einer recht schnellen Erholung vom ersten Lockdown und einem starken Beginn des Weihnachtsgeschäfts habe der zweite Lockdown plötzlich viele Hoffnungen zunichte gemacht. Anders als im Frühjahr 2020 ist es jetzt jedoch fast überall erlaubt, im Laden vorbestellte Bücher abzuholen. Wer also Lust hat, direkt mit der Lektüre meines heutigen Freitagsbuches zu beginnen, kann das tun.
Das Leben des jungen Robert in der englischen Bergbauregion Durham in den vierziger Jahren scheint vorgezeichnet zu sein: Er soll Bergarbeiter werden wie alle Männer seiner Familie. Er hinterfragt dies zunächst nicht, obwohl er sich eigentlich nach der Weite der offenen See sehnt. Er hält die Arbeit unter Tage nicht lange aus, bricht aus den engen Verhältnissen seiner Familie aus und begibt sich auf eine Wanderung ans Meer. Dabei trifft er eine Frau in einem Cottage, die ihn zum Tee einlädt und ihn mit ihren unkonventionellen Ideen überrascht. Er bietet ihr seine Hilfe in Haus und Garten an und bleibt eine Zeit bei ihr. Diese Begegnung wird den Verlauf seines Lebens stärker prägen als alles, was er bis dahin erfahren hat.
Juli Zeh, Neujahr (2018)
Wenn einen die eigene Kindheit einholt
Wenn Neujahr auf einen Freitag fällt, der haargenau in meinen 14-Tage-Rhythmus passt, dann führt für mich kein Weg an diesem Buch vorbei. Juli Zeh ist seit vielen Jahren außerordentlich erfolgreich und durch Bestseller wie Unterleuten, Schilf und – derzeit besonders häufig erwähnt – Corpus Delicti: Ein Prozess sehr vielen Lesern bekannt. Die promovierte Juristin ist politisch engagiert, Richterin am Verfassungsgericht des Landes Brandenburg und Mutter von zwei Kindern. Das klingt nach jemandem, der stark beschäftigt ist. So geht es auch dem Protagonisten von Neujahr.
Henning ist ein moderner Vater, der sich mit seiner Frau die Haus- und Familienarbeit teilt. Beide sind berufstätig und haben kleine Kinder. Seit der Geburt des zweiten Kindes überschatten Panikattacken Hennings Leben und er kommt nicht mehr zur Ruhe. Während eines Urlaubs auf Lanzarote bricht er am Neujahrsmorgen mit dem Rad auf, um etwas allein zu sein. Er quält sich stundenlang einen Berg hinauf und erreicht ein einsames Haus. Dort wird ihm schlagartig klar, dass er als Kind schon einmal auf der Insel war.
Tania Blixen, Babettes Fest/Babette’s Feast (1950)
Ein Traum wird wahr
Mit wie vielen Personen aus wie vielen Haushalten auch immer wir die kommenden Festtage in diesem besonderen Jahr begehen werden, es wird sicherlich ein feierliches Essen an einer festlich gedeckten Tafel geben. Dass gemeinsamer Genuss Menschen zusammenbringt und eine besondere Atmosphäre schaffen kann, ist oft thematisiert worden, aber selten so sinnenfreudig inszeniert worden wie in meiner nun folgenden Leseempfehlung.
Tania Blixen ist vielen nur durch ihr episches Jenseits von Afrika/Out of Africa (1937) bekannt, hat aber viel mehr geschrieben, das sich zu lesen lohnt, u.a. diese Geschichte.
Die französische Meisterköchin Babette Hersant verschlägt es in das entlegene norwegische Dorf Berlevaag, wo sie ein unspektakuläres Leben im Haushalt zweier alter Damen führt. Eines Tages gewinnt sie überraschend in der französischen Lotterie und beschließt, ein exquisites Gastmahl für zwölf Gäste zu kochen.
Nicole Krauss, Die Geschichte der Liebe/The History of Love (2006)
Ein Manuskript in der Hauptrolle
Es ist derzeit viel von alten Menschen zu lesen, die sich kaum trauen, das Haus zu verlassen, weil sie sich vor dem Coronavirus fürchten. Das ist ebenso nachvollziehbar wie traurig und ließ mich an die Figur des Polen Leo Gursky denken, der einsam in seiner Wohnung lebt und fast keine Außenkontakte hat. Die New Yorker Autorin Nicole Krauss hat diesen alleinstehenden polnischen Juden erfunden, der vor 60 Jahren ein Buch für die Frau seines Lebens geschrieben hat, das er verschollen glaubt.