Hervé le Tellier, Die Anomalie/L'Anomalie (2020)

Manch einer hat in den letzten Wochen im Flugzeug gesessen, aber garantiert niemandem ist das passiert, was Hervé le Tellier sich in seinem unglaublichen Roman Die Anomalie ausgedacht ist: Niemand ist verschwunden oder nein, nicht nur verschwunden, sondern hatte plötzlich einen Doppelgänger.

Ich spreche in Rätseln, ich weiß. Aber wie sonst soll ich von diesem französischen Riesenerfolg berichten, für den es 2020 die begehrte Auszeichnung Prix Goncourt gab? Dabei ahnt der Leser nicht sofort, was da alles auf ihn zukommt. Er lernt zunächst die Hauptfiguren kennen, die alle ein Doppelleben führen. All diese Figuren sitzen an einem Märztag im Jahr 2021 im selben Flugzeug von Paris nach New York und werden von einem extremen Unwetter komplett durchgeschüttelt. Danach landet die Boeing in den USA … und taucht einige Zeit später anderswo mit den identischen Insassen noch einmal auf.

Um für diese Anomalie eine Erklärung zu finden, werden - angesichts der Unbegreiflichkeit des Geschehens erfolglos - Wissenschaftler, Politiker und Geistliche bemüht. Es werden dabei ganz große naturwissenschaftliche und auch philosophische Fragen gestellt und le Tellier bewegt sich zwischen verschiedenen literarischen Genres hin und her. Das Bizarrste ist jedoch, wie die Passagiere mit ihren Doppelgängern umgehen. Le Tellier, der Mathematiker und Linguist ist, verbindet das Leben seiner zahlreichen Darsteller, als würde er in einer Bastelarbeit verschiedene Stränge miteinander verknoten. Daraus entsteht ein oft so verwirrendes wie faszinierend interessantes und buntes Muster.

Das Buch ist für mich verblüffend, unergründlich und unterhaltsam. Wer sich auf dieses Gedankenspiel einlässt, wird aus dem Staunen nicht herauskommen und sich an dem Schlussrätsel die Zähne ausbeißen: viel Vergnügen!

01.09.2023