Vicky Baum, Vor Rehen wird gewarnt (1954)

Wer liest heute noch Vicky Baum? Sicher nicht mehr viele, und ich hatte mich auch bis vor kurzer Zeit nie mit dieser Autorin beschäftigt, die ich nur von "Menschen im Hotel" kannte. Dabei war die Österreicherin in der Weimarer Republik sehr bekannt und erfolgreich. Sie wanderte 1932 in die USA aus, schrieb dann auf Englisch und geriet in Deutschland fast in Vergessenheit. Zu ihrem sechzigsten Todestag erschien dieser Roman in einer Neuausgabe. 

Es werden fast 50 Jahre aus dem Leben der zart und zerbrechlich wirkenden, dabei jedoch äußerst berechnenden und egoistischen Angelica Ambros erzählt. Ann, das hübsche "Reh", wird in ihrer Kindheit und Jugend verhätschelt und ihr Manipulationstalent nur von wenigen Menschen durchschaut. Als ihre Schwester Maud ausgerechnet von dem von ihr angehimmelten Wiener Geigenvirtuosen Florian geheiratet wird, beginnt sie eine jahrelange Intrige. 

Vicky Baum beschreibt die Figuren sehr plastisch und schafft mir ihrer Ann eine Frau, die in ihrer Skrupellosigkeit schockiert, dabei aber selbst davon überzeugt ist, sich nur zu nehmen, was ihr zusteht. Sie fasziniert durch ihr Geschick, selbst in den gefährlichsten Situationen blitzschnell eine für sie günstige Lösung zu finden, und übersteht dadurch alle Krisen. 

Besonders interessant fand ich die Darstellungen des großen Erdbebens in San Francisco und des Börsencrashs. Ob wir es hier mit Weltliteratur zu tun haben, sei dahingestellt. Ich jedenfalls habe mich am Ende eines Jahres mit vielen schlechten Nachrichten und sich immer wieder verdichtenden Einschränkungen gut unterhalten gefühlt und empfehle diesen elegant geschriebenen Roman daher als Lektüre für den Jahreswechsel, bis ich mich Mitte Januar mit einem neuen Buch melde.

(17.12.2021)