Karen Duve, Fräulein Nettes kurzer Sommer (2020)

Über dieses Buch scheiden sich seit seinem Erscheinen vor zwei Jahren die Geister. Während die einen mir erzählten, es sei ein wunderbares Buch über die Droste, fanden andere es viel zu weitschweifig. Ich habe es in den vergangenen Wochen gelesen und darin viele hochinteressante Themen gefunden. Es ist ein Buch, das sich Zeit nimmt und für das man Zeit braucht. Denn Karen Duve legt fast 600 Seiten über einen recht kurzen Ausschnitt aus dem Leben von Annette von Droste-Hülshoff vor, auf denen sie den Leser mitnimmt auf eine Reise in die Zeit des Biedermeier.

Es ist die Zeit der Kutschen, langen Kleider und Teestündchen, der Hausgeister und Wasserburgen, aber auch die Zeit, in der Frauen nichts zu sagen hatten und ihren Tag bevorzugt mit Sticken und Stricken verbringen sollten. Und genau das war Annettes Problem. Wie sollte sie ihren wachen, kritischen Geist auslasten, indem sie Taschentücher mit Blumenmustern verzierte, während die Herren im Salon über Politik und Literatur diskutierten? Sie hatte zu allem etwas beizutragen, was ihr als vorlaut und unschicklich angelastet wurde.

Dabei tauchten in ihrer Umgebung durchaus Geistesgrößen der Zeit auf, so dass beispielsweise die Grimmbrüder oder auch Heine durchs Bild laufen wie in anderen Romanen Köche und Gärtner. Annettes aufgeweckte Art und ihr ungestümes Wesen machten sie so beliebt wie exotisch. Sie zog ihren Stil durch und kümmerte sich nicht sehr darum, was andere von ihr dachten. Da ihre Schreibversuche in ihrer Familie auf wenig Interesse stießen, suchte sie Rückmeldungen außerhalb des Familienkreises und kam so ins Gespräch mit einigen geistreichen Männern aus dem Göttinger Studentenumfeld. Einige dieser Männer, die durchaus nicht alle standesgemäß waren, entwickelten eine Schwäche für die kurzsichtige junge Frau mit der scharfen Zunge, die sich so sehr abhob von ihrer Umgebung.

Der kurze Sommer ist ein Buch, das man aus meiner Sicht aus vielen Gründen lesen sollte, selbst wenn man kein ausgeprägter Droste-Fan ist. Die Darstellung der Zeit und ihrer Gesellschaft lohnt sich auf jeden Fall. Zudem ist das Buch ausgesprochen pointiert und witzig geschrieben. Bedauerlich finde ich nur, dass das literarische Werk der Droste-Hülshoff thematisch etwas untergeht.

 

(22.04.2022)