Susann Sitzler, Geschwister: Die längste Beziehung des Lebens (2014)

Als die Liste der Nominierten für den Deutschen Buchpreis 2022 erschien, war es schon zu erahnen. Als daraus die short list von sechs Titeln wurde, wurde es glasklar: Das Thema Familie spielt in fast allen Werken eine große, wenn nicht die zentrale Rolle. Es geht den ausgewählten Autoren um Familienthemen aller Art, meistens über mehrere Generationen hinweg. Da scheint es mir passend, hier heute ein Buch vorzustellen, das sich der Thematik Geschwister widmet und das so ansprechend, dass der Leser unwillkürlich seine eigene Familienkonstellation durchdenkt, zumindest wenn er Geschwister hat. 

Die Schweizer Journalistin Susann Sitzler, die manch einer vielleicht von ihren Büchern über die Schweiz kennt, hat sich früh im Leben von ihrer  recht komplizierten Familie nach Berlin abgesetzt, wo sie seit über zwanzig Jahren lebt. Ihre Familie stellt ein hochkomplexes Patchwork-Gebilde mit zum Teil großen Altersunterschieden dar, das aus mehreren Ehen der Eltern hervorgegangen ist. Sie greift immer wieder sowohl auf ihre eigene Erfahrung als auch auf die Geschwisterforschung zurück, wenn sie beschreibt, wie Geschwister das Leben prägen können, was man von und mit ihnen lernen kann und wie sich die Beziehungen unter ihnen mit dem Erwachsen- und Älterwerden verändern können. 

Die Bandbreite ist riesig: Für manche ist die Schwester die engste Freundin oder der Bruder der wichtigste Gesprächspartner überhaupt. In anderen Fällen besteht kaum Kontakt und man sieht sich allenfalls auf Familienfeiern. Sitzler räumt auch mit der bekannten Idee auf, dass man mit Geschwistern teilen lerne, und hält dem entgegen, dass man stattdessen verhandeln lerne und Grenzen eigener Macht erfahre.

Das Buch ist kurzweilig und immer interessant, weil man ständig Situationen vor Augen hat, die man entweder selbst erlebt hat oder aus Beschreibungen anderer Familien kennt. Es geht im Grunde den meisten von uns wie den Autoren, die um den Buchpreis wetteifern: Das Beziehungsgeflecht in der Familie geht uns alle an und bewegt uns. Das gilt auch für Einzelkinder, zu denen hier ebenfalls einige aufschlussreiche Erkenntnisse aus der Forschung zu finden sind, die mit alten Vorurteilen aufräumen.

Wenn ich auch Sitzlers fortwährenden Hinweise auf ihre Schwester Marlene auf fast jeder zweiten Seite etwas ermüdend finde,  so kann ich dennoch dieses umfassende und sehr lesbare Buch zur Geschwisterthematik allen empfehlen, die sich für Familienfragen interessieren oder ganz persönliche Themen aufbereiten wollen.

Ich melde mich nach den Herbstferien, am 4. November 2022, wieder mit einen Buchbeitrag zum Thema Meer.

(14.10.2022)