Wer sich aus freien Stücken dafür entscheidet, in einer großen Stadt zu leben, findet ein meistens inspirierendes, oft jedoch auch anstrengendes Umfeld vor. Er kann die Vorteile des umfangreichen Angebots genießen und muss sich mich den zahlreichen Nachteilen arrangieren. Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt bereits in Städten mit steigender Tendenz; in Deutschland sind es schon 77% der Menschen. Es lohnt sich allein deshalb, das neue Buch des Berliner Ethnologieprofessors Rolf Lindner zum Phänomen Großstadt zu lesen.
Am Beispiel Berlins zeigt Lindner, wieso ursprünglich im neunzehnten Jahrhundert so viele Menschen aus dem Umland von der Stadt angezogen wurden: Sie kamen aus wirtschaftlichen Gründen, suchten dort in einer im Umbruch befindlichen Welt Lohn und Brot. Vielen ging es aber auch darum, eine neue Freiheit zu entdecken, indem sie der ständigen Sichtbarkeit und Lebensstilüberwachung ländlicher Enge entflohen. Sie konnten in der Stadt das Leben nach ihrer Façon gestalten und genossen die Anonymität. Dadurch wuchs die Stadt schnell und mit diesem rapiden Wachstum ging eine rasante wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung einher.
Dass viele die Anonymität der Stadt geradezu suchen und schätzen, ist sicher auch heute noch so, denn seit Beginn des urbanen Wachstums können Menschen in der Stadt ihr Leben frei nach ihren Vorstellungen gestalten. Großstädte ziehen bunte Vögel, schräge Gestalten und echte Typen an. Man lässt sie dort in Ruhe ihre Individualität zelebrieren und sie sind ein Teil des städtischen Inventars.
Nicht jeder wird in der Stadt, schon gar nicht in Weltstädten, glücklich und kann sich den Distanzregeln und dem gängigen Verhalten auf den Straßen oder in öffentlichen Verkehrsmitteln anpassen. Das Zusammenleben an einem Ort mit sehr vielen Menschen, das kein gemeinsames Leben ist, folgt eigenen Regeln und birgt neben etlichen Unannehmlichkeiten gewaltige Chancen. Die unzähligen Filme, Lieder und Bücher, die sich mit Städten befassen, zeugen davon und werden von Lindner ausführlich beschrieben. Wer sich mit dem urbanen Leben und seinen Einflüssen auf die Menschen beschäftigen möchte, sollte unbedingt zu diesem neuen Titel greifen, der durchaus nicht auf Berlin beschränkt ist, sondern viele andere Weltstädte im Blick hat.
(05.05.2023)