Uwe Wittstock, Karl Marx beim Barbier: Leben und letzte Reise eines deutschen Revolutionärs (2018)

Dass hinter Frisurveränderungen von Frauen Umwälzungen in ihrem Leben zu vermuten sind, ist eine gängige Überzeugung. Dass die Abnahme eines Bartes von tieferer Bedeutung im Leben eines Mannes sein könnte, wird jedoch selten thematisiert, schon gar nicht im Zusammenhang mit Karl Marx, der automatisch immer mit einem gewaltigen Rauschebart assoziiert wird. Kein Wunder also, dass Uwe Wittstocks Titel mir auffiel und mich zu dieser wirklich fesselnden Lektüre führte. 

Wittstock berichtet zunächst davon, wie Karl Marx 1882 nach dem Tod seiner Frau Jenny erstmals in seinem Leben Europa verlässt, um sich in Algier von seiner Krankheit und der Trauer zu erholen, ein Plan, der ihm aufgrund des regenreichen und kühlen Wetters in Algier jedoch keinesfalls gelingt. Die unwirtliche Stadt lässt Marx recht unbeeindruckt und er betrachtet lieber in vielen Rückblenden sein Leben. 

Seine Bilanz ernüchtert: Seine hochgesteckten Ziele hat er zum großen Teil nicht erreicht und seine Familie über weite Strecken kaum ernähren können. Dem Leser klar, wie mühsam die Familie Marx sich oft über Wasser hielt und wie sehr Friedrich Engels' Hilfe fast ständig nötig war, um die hochverschuldete Familie zu unterstützen. Es ist sicher für viele überraschend zu erfahren, dass Marx unfähig war, mit seinen Ressourcen zu haushalten,  sich ständig verschuldete und meistens keinen Überblick über seine Finanzen besaß. Nur der Großzügigkeit Engels' war es zu verdanken, dass die Familie Marx wenigstens einigermaßen über die Runden kam. Engels war jedoch nicht nur ein guter Freund und ständiger Geldgeber für Marx, sondern er gab nach Marx' Tod auch den zweiten und dritten Band des Kapitals heraus. Was wäre bloß aus Marx' Lebenswerk geworden, wenn sein Freund ihm nicht in so vieler Hinsicht beigestanden hätte?

Marx' im Titel angekündigter Barbierbesuch überrascht den Leser am Ende des Buchs und wird knapp abgehandelt. Ob die radikale Veränderung seines Äußeren nicht eventuell damit zusammenhing, dass Marx' Theorie gegen Ende seines Lebens ins Wanken geriet, bleibt offen. 

Die eigentliche Leistung dieses hochinteressanten Buchs liegt meines Erachtens in der Beschreibung des Lebens eines der größten Köpfe des neunzehnten Jahrhunderts, dessen bahnbrechenden Ideen von immensem Einfluss auf Wirtschaft und Wissenschaft waren, selbst wenn seine Vorhersagen zum Teil nie eingetroffen sind. Zudem bettet das Buch Marx' Wirken in sein Familien- und Privatleben so ein, dass Marx, der gemeinhin nur als Übervater des Kommunismus geläufig ist, als Mensch mit allen seinen Schwächen und Defiziten erkennbar wird. 

(29.09.2023)