Martin Hecht, Die Einsamkeit des modernen Menschen: Wie das radikale Ich unsere Demokratie bedroht (2021)

Manche Autoren stellen die richtigen Fragen, verrennen sich dann aber in für sie von Anfang an feststehende Antworten. Diesen Eindruck hatte ich bei diesem Titel über den modernen Individualismus, der aus der Perspektive des Publizisten Martin Hecht eine Gesellschaft der Selbstbezogenen geschaffen hat. Obwohl ich schon vor einiger Zeit Rüdiger Safranskis Einzeln sein: Eine philosophische Herausforderung (2021) hier vorgestellt habe, erscheint mir gerade nach der langen Pandemie die Vereinzelung und ihre Erforschung so wichtig zu sein, dass ich Hechts Sicht dazu hier beschreiben will.

Der Autor verortet den Beginn des Individualismus in der Renaissance, als die Menschen aus seiner Sicht die Zwänge von Traditionen und Glauben hinter sich ließen und dann mit der neuen Freiheit nicht umgehen konnten. Auf sich allein gestellt, habe das Individuum in einer zunehmend verfallenden Gesellschaft seitdem immer desorientierter gelebt. Der Kampf um Aufmerksamkeit und Anerkennung, den er heute besonders im Internet findet, radikalisiere sich zunehmend und die Menschen suchten bei Populisten Halt.

Ganz von der Hand zu weisen ist das Phänomen der Vereinsamung in den modernen Gesellschaften sicher nicht. In England und Japan führte es sogar zur Einrichtung eines Ministeriums für Einsamkeit, um Menschen aus der Isolation und Anonymität zu holen. Hechts Tendenz zur Verallgemeinerung führt aus meiner Sicht jedoch dazu, dass er häufig unzulässige Aussagen trifft. Vieles mag auf manche Menschen zutreffen, aber nie auf alle. Die Motivationsforschung zeigt beispielsweise, dass viele Menschen gerne allein sind und daran nicht etwa verzweifeln, sondern sich an der Ruhe erfreuen, die sie bewusst suchen. Ebenso halte ich den Gedankengang für falsch, dass das Individuum, sobald es auf sich gestellt ist, nicht nur Anschluss sondern auch Bestätigung sucht. Es ist längst erwiesen, dass viele Menschen auf Bestätigung durch andere kaum angewiesen sind und daher auch nicht danach schielen.

Wieso stelle ich hier also ein so wenig differenzierendes Buch vor? Weil die grundlegenden Fragen mir wertvoll erscheinen: Wie finden wir in einer stark individualisierten Gesellschaft Konsens und Zusammenhalt? Wann wird aus Alleinsein Einsamkeit mit möglichen politischen Risiken? Gibt es angesichts ungünstiger demographischer Entwicklungen Auswege aus der Isolation im Alter? Insofern ist dies ein Titel, der uns alle angeht.

(16.09.2022)