Leïla Slimani, Dann schlaf auch Du/Chanson Douce (2016)

Im Vorfeld der Buchmesse wurde ich auf den Besuch der französisch-marokkanischen Schriftstellerin Leïla Slimani in Frankfurt aufmerksam und suchte dieses Buch von ihr aus, für das sie 2016 den Prix Goncourt erhielt.

Es geht um eine ganz durchschnittliche Familie der Pariser Mittelschicht, in der beide Eltern arbeiten und die Betreuung ihrer zwei kleinen Kinder daher einem Kindermädchen anvertrauen. Die gut ausgebildeten Eltern Myriam und Paul schwanken ständig zwischen ihrem beruflichen Ehrgeiz und der Sorge um ihre Kinder. Zeitdruck und Überforderung sind für sie Normalität und so heißen sie das Kindermädchen Louise zunächst erleichtert willkommen. Als Louise, über die sie nur ganz rudimentäre Informationen einholen, sich als die perfekte Wahl zu entpuppen scheint, lassen sie sie immer mehr Raum in ihrem Haushalt einnehmen.

Der Roman ist geschickt konstruiert, denn der Leser erfährt schon im ersten, sehr schockierenden Satz, was passieren wird, und will wissen, wie es soweit kommen konnte. So wundert es bei der Lektüre zunehmend, dass die Eltern manche verstörenden Anzeichen und auch den klaren Hinweis auf Louises besorgniserregende finanzielle Situation nicht wahrnehmen oder ihnen zumindest nicht nachgehen. Im fordernden Großstadtalltag gehen ihre Bedenken unter und so verstärkt sich Louises Einfluss auf den Haushalt immer mehr. Dabei entwickelt der Leser durchaus viel Verständnis für die Eltern, die im hektischen Paris ihre „work-life balance“ suchen. Sie stehen als durchschnittliches Paar stellvertretend für viele junge Familien der französischen Bourgeoisie, die auf Unterstützung von außen angewiesen sind.

Ich empfehle dieses hochspannende Buch jedem, der gerne psychologische Romane liest und sich zudem für Klassenunterschiede in der modernen französischen Gesellschaft interessiert. Wer zartbesaitet ist, sollte allerdings lieber auf diese Lektüre verzichten, denn Slimanis virtuose Sprache geht unter die Haut.

(30.09.2022)